Gleichberechtigung, Künstliche Intelligenz und Landwirtschaft nehmen viel Raum in Ursula von der Leyens Rede ein. Sicherlich sind das wichtige Themen. Etwas zu kurz kommt der weitere Einsatz der Europäischen Kommission für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Und dabei geht es nicht nur um die dringend gebotene Abwehr von Desinformation und anderen hybriden Angriffen aus Drittstaaten, sondern insbesondere auch um die Erosion der freiheitlichen Demokratie in vielen EU-Mitgliedstaaten.
Von der Leyen wird hier Rücksicht auf die bevorstehenden Parlamentswahlen in Polen genommen haben. Trotzdem hätte sie geeignete Worte finden können, ohne sich gleich dem Vorwurf der Einmischung in den Wahlkampf aussetzen zu müssen. Kein Wort auch zu den schrumpfenden Räumen für die Zivilgesellschaft, die vielerorts systematisch von oben umgebaut wird, so dass sie keine Gefahr mehr darstellt für die Regierenden beziehungsweise ihrer für das Überleben der Demokratie unverzichtbaren Aufgabe, für Transparenz und Rechenschaftspflicht zu sorgen, nicht mehr nachkommen kann. Damit hat Von der Leyen eine wichtige Chance verpasst. Die Verteidiger der liberalen Demokratie, zu denen die von ihr geführte Kommission ohne jeden Zweifel gehört, müssen ihre Samthandschuhe ausziehen.
Für uns steht außer Frage, dass die EU weiter zu vertiefen ist. Zuvorderst muss das Vetorecht einzelner Mitgliedstaaten in den Politikfeldern, in denen es für Blockaden, Stillstand und Erpressungen sorgt, endlich abgeschafft werden. Die Präsidentin spricht sich aber für eine Erweiterung aus, die die Vertiefung nicht zur Voraussetzung zu haben scheint. Das wäre fatal für die Union. Ihr ist zuzustimmen, dass die Westbalkanstaaten nicht mehr lange warten können, und europäische Staaten, deren staatliche Integrität heute von Russland bedroht oder angegriffen wird, müssen eine klare Beitrittsperspektive bekommen. Die Ukraine, Georgien und Moldawien gehören zu Europa.
Die zumindest gleichzeitige Vertiefung ist aber unverzichtbar. Sie ist trotz aller geopolitischen Veränderungen nicht nachrangig, sondern gerade mit Blick auf die Handlungsfähigkeit Europas in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik nötiger denn je. Sonst müssen sich einzelne Mitglieder aufmachen und eine Politische Union innerhalb einer erweiterten EU gründen, von der neue Anziehungskraft und damit europapolitische Stabilität für ganz Europa ausgehen kann.
Von der Leyen sprach nicht als Hüterin der Verträge, sondern als Kandidatin. Ihre Rede adressierte die eigene Parteifamilie, ohne deren Rückhalt sie nicht als Spitzenkandidatin reüssieren kann. Für den aufziehenden Wahlkampf wünschen wir uns vor allem Klarheit. Die Zukunft Europas in der aktuellen Welt(un)ordnung braucht Mut und Führungsstärke. Die Berichterstatter aus fünf verschiedenen Gruppen des Europäischen Parlaments beweisen diese mit ihren Vorschlägen für das Europa von morgen.